Aus dem Katalog zur Ausstellung. OST sieht WEST- WEST sieht OST:
Immer wieder waren da die Schilder an unseren Autobahnen:
Dresden. Leipzig, Weimar. Rostock. Jahrzehntelang Wegweiser zu Menschen und Städten im anderen Deutschland, oft viele Kilometer näher als das Fahrziel im Westen und doch verboten für freie. spontane Begegnungen. Und plötzlich über Nacht war alles anders. Endlich konnte ich ungehindert und frei von allen Zwängen dieses Land bereisen, mich treiben lassen von Stadt zu Stadt, geführt allein vom selbstbestimmten Konzept, eine Topographie von Stadtlandschaften zu fotografieren.
Keine Ortsübersichten oder stadtplanerischen Aspekte aufnehmen. sondern im Kleinen, im Stillen die große Veränderung aufzeigen. Das andere, uns fremde Deutschland. das DDR Spezifische erleben und einfangen. Einen Mikrokosmos schaffen, der das Leben und den Alltag an Straßenecken zeigt und in Stadtzentren und Neubaugebieten, in Ballungsräumen und Industrievororten den Istzustand im Straßenbild festhält.
Begonnen habe ich meine Reise in Thüringen beim dort traditionsreichen Karneval, der einem Prolog gleich meine Begegnungen mit der DDR einleiten sollte. Das närrische Treiben demaskierte das alte System und spiegelte deutlich die Umwälzungen in diesem Land nach der Revolution wieder. Da fiel es nicht nur alten Genossen schwer, noch mitzulachen. Wenn junge Leute als Wandlitzer Prominenz verkleidet, Parolen riefen und Lieder sangen, die bis vor einigen Wochen noch die einzig gültige Wahrheit zu sein hatten.
Die Begegnungen mit den Straßenecken weckte Erinnerungen an die Nachkriegszeit in Deutschland West: vordergründig an Trümmerlandschaften, an mit Taschen und Geräten beladenen Menschen, den Blick meist nach unten gerichtet, an den Geruch verbrannter Kohle, an Farben, die ich lange so nicht mehr gesehen hatte und an viele andere Details. die schwerer zu beschreiben sind und hoffentlich in den Bildern deutlich werden.
Anderes blieb fremd, auch noch nach Tagen: der lieblose, fast verächtliche Umgang mit Dingen und Gebäuden in Einkaufs- und Wohnvierteln oder die Kälte des sozialistischen Kunstschmucks im Straßenbild. Während schon bald deutlich wurde, dass meine topographischen Beobachtungen der Stadtlandschaften sich auch hätten in einer einzigen Großstadt realisieren lassen. Denn immer wieder traf ich auf das gleiche planerische Schema: eine rekonstruierte Innenstadt von oft nur wenigen gut erhaltenen Straßen oder Häusern, umgeben von einem Gürtel dem Verfall preisgegebener bürgerlicher Gründerzeitbauten. Davor auf der grünen Wiese dann die „sozialistischen“ Neubauviertel in immer gleicher Bauweise, oft benannt nach Arbeiterführern.
Und dann waren da noch die Schaufenster. an denen mich nicht der oberflächliche Konsumvergleich interessierte. sondern die besondere Art in der hier mit nur wenigen, oft verfremdeten Mitteln. eine Gestaltung betrieben wlrd, die manchmal schon mehr an künstlerische Installationen als an Ausstellungswerbungen erinnern und die dabei soviel über die Geschichte und den Wandel in diesem fremden, diesem vertrauten Land aussagen - damals im deutschen Frühling.